Gestohlener Himmel. Widerstehen im Knast (1995)
Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene (Hg.) 1995
Thom Verlag, Leipzig 1995.
ISBN: 3-930383-04-7
„Widerstehen ... um sich das Leben nicht ganz aus der Hand nehmen zu lassen", ist das Motto des
Ingeborg-Drewitz-Literaturpreises für Gefangene 1995.
Die vorliegende Anthologie versammelt die ausgezeichneten 16 Texte sowie die Dokumentation zweier Sonderpreise.
Häftlinge in deutschen Gefängnissen schrieben unterschiedlichste Kurzgeschichten, Erfahrungsberichte,
Tagebuchauszüge, Spielszenen und lyrische Texte. Sie alle lassen erkennen, wieviel Kraft nötig ist, um dem
alltäglichen, oft jahrelangen Trott von Erniedrigung und Entmündigung im Strafvollzug nicht völlig zu
unterliegen. Sie zeigen aber auch Phantasie, Kreativität und den Versuch, Hoffnung auf das Leben außerhalb der
Gitter zu bewahren.
„Weißt du, was die größte Folter für einen Gefangenen wäre? Daß man ihm den Himmel wegnähme. Uns hat man ihn
genommen. Drei Wochen haben sie gebaut, geschweißt, gehämmert, bis das Fenster zur Freiheit zugedeckt ist. Nun
sind nicht mehr nur Häuser und Mond auf dem Bild von Klee über meinem Bett kubisch - auch der Himmel, der Mond
über meinem Fenster ist in kleine, schwarzumrandete Quadrate gestückelt."
Zum Geleit
Luise Rinser
Das Schreiben rettete mich
vor der Verzweiflung
Nur wer selbst im Knast saß, kann ermessen, was es heißt, nicht nur zu überleben, ohne zu zerbrechen, sondern
die Kraft aufzubringen, unter schlimmsten Bedingungen kreativ zu sein.
Als ich im letzten Kriegsjahr wegen »Wehrkraftzersetzung« (politischer Widerstand) im Gefängnis saß, auf meinen
Prozeß wartend, rettete mich vor der Verzweiflung nicht nur die Hoffnung auf die Befreiung durch das Kriegsende.
sondern auch das Schreiben. Ich schrieb allerdings keine Erzählung, denn wir bekamen weder Papier noch
Bleistift, und das Schreiben war grundsätzlich verboten, wie alles verboten war, was uns Trost hätte sein
können. Ich schrieb eine Art Tagebuch auf den unbedruckten Rand des Zeitungsblattes, das wir als Klopapier
bekamen; es war ein so schmaler Streifen, daß ich meine Notizen nur in winzigen Buchstaben und in Abkürzungen
schreiben konnte. Einen Bleistift fand ich nach langem Suchen in einer Ritze zwischen Boden und Mauer. Ein
Stümpchen, das nach zwei Monaten aufgebraucht war. Was ich aufschrieb, war das Elend des Gefängnisalltags mit
allen Schikanen seitens der Aufseherinnen und die besonderen Leidensgeschichten meiner Mithäftlinge. Die
vorsichtshalber zerknüllten Notizen, die ich im Rocksaum eingenäht hatte, habe ich nach der Befreiung nach
Kriegsende mühsam entziffert und zu einem Buch zusammengestellt. Es heißt »Gefängnistagebuch« und wurde viel
gelesen und in andere Sprachen übersetzt. Eine Summe seelischer Nöte kam darin zu Worte: Geschichten von
Menschen, die zerbrachen, und anderen, die mit Mut und auch List überlebten. Ich, die ich als einzige
»Politische« mit »Kriminellen«
zusammenlebte, lernte die Entgleisten, die von den Bürgern Ausgestoßenen verstehen und lieben, und ich lernte
mit Schrecken begreifen, daß die Zeit, die sie hinter Gittern verbrachten, ihnen unwiederbringlich gestohlene
Lebenszeit war. Vergeudete Zeit, die keinerlei positives Ergebnis brachte. Und ich begriff, daß in vielen, wenn
nicht allen Fällen, die Häftlinge die Opfer und Sündenböcke der Gesellschaft waren und sind.
Ich fragte einmal eine Frau, ob sie sich denken könne, daß man Gefängnisse abschafft und Zentren für kreative
Arbeit einrichtete. Sie sagte entsetzt: »Ja wohin kämen wir denn, wenn die Kriminellen nicht hinter Gittern
säßen?!« Meine Frage: »Wie wäre es, wenn unsere Gesellschaft so wäre, daß es keine Kriminellen zu geben
brauchte?« Ich lasse die Frage offen.
Die kreative Kraft, die die Männer und Frauen aufbrachten, um gute Literatur für diese Anthologie zu machen, ist
bewundernswert.
Friedrich Magirius
Ostdeutscher Strafvollzug - immer
noch Isolierung und Bestrafung im
Vordergrund
Das Leben in der DDR ist manchmal als ein »Leben in einem großen Gefängnis« bezeichnet worden. Tatsächlich waren
die Grenzen nach dem Mauerbau hermetisch abgeschlossen. Und im Inneren des Landes herrschte ein straff
organisierter Überwachungsmechanismus. Wenn auch das Bild - verglichen mit
einer echten Gefängnissituation - überzogen erscheinen mag, so ist uns erst im Rückblick umfassend bewußt, in
welcher Situation wir gelebt haben.
Anfang Dezember 89 wurde in Leipzig von Demonstranten die Stasizentrale gestürmt. Obwohl acht Wochen lang
Zehntausende. Hunderttausende vor diesem Gebäude, der sogenannten »Runden Ecke«, vorübergezogen waren und ihrem
Zorn freien Lauf ließen, saßen hinter den dunklen Fenstern die schwerbewaffneten Einheiten der Staatssicherheit.
Auch bei dem Sturm auf das Gebäude griffen sie nicht ein, doch es folgten stunden-, ja tagelange zähe
Verhandlungen, um den Verantwortlichen den Einfluß zu entreißen und vor allem die Akten zu sichern und vor der
Vernichtung zu bewahren.
Als ich um Mitternacht - nach etwa 16 Stunden schwieriger Auseinander-setzungen - nach Hause kam, erwartete mich
die Nachricht, daß am nächsten Morgen erstmalig die Haftanstalt in der Kästnerstraße besucht werden könnte. Mit
zwei Journalisten und dem Gefängnisseelsorger fand ich mich bei dem völlig verunsicherten Leiter der Einrichtung
ein, der uns um Unterstützung bat. Denn alle Häftlinge hatten nun erst von den umwälzenden Veränderungen
erfahren, einen Strafgefangenenrat gebildet und wünschten, umgehend entlassen zu werden. Im Vergleich zu der
Schuld der alten Machthaber fühlten sie sich alle zu Unrecht eingesperrt.
Ich werde nie vergessen, wie ich im Zentrum des Gefängnisses aufgefordert wurde, zu den gespannt wartenden
Hunderten von Häftlingen zu sprechen. Viele wurden kurz danach wirklich amnestiert. Erstmalig war es aber
überhaupt möglich, daß Seelsorge und Gespräche ohne Kontrolle in der Strafanstalt stattfinden konnten. Dieses
mein erstes Grunderlebnis weckte in mir die Bereitschaft, der Einladung zu der Verleihung des
Ingeborg-Drewitz-Preises in Dortmund 1992 nachzukommen.
Seitdem ist mir voll bewußt, wie wichtig es ist, Gefangene anzuregen, sich schriftstellerisch zu betätigen. In
Dortmund war nur ein Vertreter aus den östlichen Bundesländern unter den Ausgezeichneten. Da aber hier die
Probleme mindestens ebenso kompliziert sind wie in den westlichen Bundesländern, habe ich zur diesjährigen
Preisverleihung nicht nur nach Leipzig eingeladen, sondern versucht, auch in »unseren« Gefängnissen zur
Teilnahme an dem Wettbewerb anzuregen. Wenn schon andere öffentliche Gebäude im Osten nur Schritt für Schritt
vor dem Verfall gerettet werden können, wie viel schlimmer steht es um die Gebäude. in denen Strafgefangene
untergebracht sind. Wenn es schon dem Durchschnittsbürger schwerfällt, sich an die neuen Verhältnisse
anzupassen, wie viel schwerer muß das den Inhaftierten fallen!
Schritt für Schritt ist mir bewußt geworden, daß im Strafvollzug immer noch Isolierung und Bestrafung für
Verfehlungen im Vordergrund stehen, viel zu wenig aber für eine Resozialisierung der Schuldiggewordenen getan
wird. Das ist der Hauptgrund. warum mir daran liegt, die diesjährige Verleihung des Ingeborg-Drewitz-Preises in
Leipzig durchzuführen. Die literarische Beschäftigung mit dem Schicksal kann ein wichtiger Schritt sein zum
Nachdenken und Umdenken und zu einem neuen Anfang. Gerade hier in den östlichen Bundesländern haben wir
dringenden Nachholbedarf, auch in den Stätten der Isolierung den Blick zu weiten und zu einer Eingliederung in
das
normale Leben nach der Haftverbüßung beizutragen.
Eindrücke eines Jury-Mitglieds
F.C.
Anschreiben gegen die
Ohnmacht
Erfurt.Untersuchungshaftanstalt. Nach 5 Jahren Freiheit gehe ich über Zellentrakte, vorbei am ehemaligen
STASI-Trakt, durch Gittertüren und noch mehr Gittertüren und noch eine Gittertür. Höre dieses furchtbar
metallene Geräusch der klirrenden Schlüssel, warte auf das Aufschließen der Türen und schiebe dieses beklemmende
Gefühl, das sich auf meine Luftröhre legt, beiseite. Dann betrete ich den Raum, in dem die Gottesdienste
abgehalten werden. Es ist heiß, die Heizung läßt sich nicht abstellen. Mir gegenüber sitzen ca. 30 überwiegend
jugendliche Gefangene. In die erste Reihe möchte keiner. Vor mir tut sich eine Mauer von Unsicherheit auf - mit
Machotum überspielt. Ich lese. Zuerst Unruhe, dann Schweigen. Der Versuch, mit meinen Texten Löcher in diese
Mauer zu reißen, Zugang zu finden. Verbinden uns nicht dieselben Gefühle? Finden sie sich in meinen Texten
wieder? Dann vernichtende Kritik: »Das ist alles so ein Gejammere. Da kannst du dich ja gleich am nächsten
Fensterkreuz aufhängen.«
Mir kann niemand weismachen, daß er nicht schon einmal gleich gefühlt hat. Es ist die Unfähigkeit, diese Gefühle
zuzulassen, sie zu erkennen, sie zu durchleben dasteht oder als Memme verachtet wird. Im Laufe der Diskussion
plötzlich vereinzelte Zugeständnisse: »Ja, ich schreibe ja auch. Aber dann mehr lustige Sachen.« Oder: »Wie es
mir geht, das schreibe ich nur meiner Freundin. Ich habe auch schon viele Briefe weggeworfen. « Also doch:
Schreiben als Überlebenshilfe, als Möglichkeit, dem zermürbenden Alltag zu entgehen. Die Chance zur
Auseinandersetzung mit sich selbst. Die Jugendlichen werden noch einmal nachdenklich, ich spüre Risse im Raum.
Auch Haß und Wut ließen sich niederschreiben. Sich mitzuteilen ist Widerstand. Widerstand gegen eine Macht, die
entmündigt.
Für mich war das Schreiben vielfach Mittel, mit dem fertig zu werden, was sich mir tagtäglich an Repression bot.
Der Stift war mir Ventil, aus dem sich all der Druck entlud, der in meinem Inneren schwelte. Anschreiben gegen
die Ohnmacht. Durchschnittlich vier Briefe am Tag. All meine Gefühle versuchte ich in Worte zu packen, sie
rauszuschrei(b )en, sie zu verarbeiten, die Einsamkeit und den Hunger nach Zärtlichkeit, Liebe und Nähe. Was
Hänschen schon draußen vermißte, bekommt Hans im Knast nimmermehr. Jeder Wunsch ist der Anstalt ein Wunsch
zuviel. Wo Sprache versagt, bleibt das Papier.
Die Texte, die vorliegen, spiegeln eine ähnliche Form von Widerstand wider. Als ich in die Jury gerufen wurde,
weg von meinen Alltagsproblemen. merkte ich, wie lächerlich doch meine Sorgen sind im Gegensatz zu dem, was vor
mir lag. Ich spürte das Neonlicht wieder, und die Gefühle der Gefangenen wurden meine Gefühle. Ich fand mich in
vielen Texten und sah genau den Autor vor mir, wie er da auf seinem Bett liegt, am Tisch sitzt, in der Zelle auf
und ab wandert, insam, und versinkt in die Welt seiner Geschichte. Die Gitter wurden lebendig, und ich spürte
dieselbe Wut, Trauer und Ohnmacht, die ich damals schon gespürt hatte. Die Gefangenen wurden mir gegenwärtig.
Das Erkennen war stellenweise schrecklich und belastend, aber als sehr wohltuend empfand ich meine Solidarität
und mein Mitgefühl.
Die Geschichten, Gedichte, Hörspiele und Dokumentationen sind unverblümt. Sie beschreiben die kalte Gegenwart,
die Sehnsucht und den Irrsinn, geben Vergangenheiten und Lebensgeschichten preis, flüchten mit mir in
Traumwelten und Phantasien - und manchmal ist da auch etwas wie Hoffnung, Freude und Mut. Sich nicht
unterkriegen lassen! Der Widerstand, eigentliches Ausschreibungsthema. wurde nicht immer direkt thematisiert,
doch war er in fast allen Texten zu finden. Wo ziehen wir die Grenze? Ist nicht schon das bloße Schreiben
Ausdruck des Nicht-Hinnehmen-Wollens und damit gelebter Widerstand? Auch das Verarbeiten der Gefühle und der
Situation, das Hineinflüchten in Texte, der Mut zur Veröffentlichung sind Widerstand. Widerstand gegen diese
Entmündigung, gegen dieses Ausgeliefertsein und gegen diese Kälte der Macht.
Widersteh' dich
Wie lieb du doch geworden bist
immer freundlich, nett
und zuvorkommend
bedankst dich sogar
wenn sie dir die Zelle aufschließen
um dich einzuschließen
>everybodys darling< sozusagen und einen Buckel hast du auch schon längst weichst deinen Augen aus die dich aus
dem Spiegel ängstlich ansehen und dich auffordern aufzustehen zurückzuschreien gegen diese Gewalt die sie
dir antun anstatt deinen Buckel zu Grabe zu tragen
Ich wünsche mir sehr, daß die hier veröffentlichten Texte
den Leser genauso ergreifen, wie sie mich ergriffen haben; daß sie ihm ermöglichen, einzutauchen in die
karge Welt der Zelle und das im Gegensatz dazu so flammende Innenleben der Gefangenen. Die vorliegenden
Texte haben allemal die Kraft dazu.
Auswahl aus: Gestohlener Himmel. Widerstehen im Knast.
Kenny Berger
Milchgesicht. Eine Hommage für Wolfgang Borchert
S. 27 - 55
Gabriele P.
Ich will Erde unter den Füßen haben
S. 158 - 160