Risse im Fegefeuer (1989)
Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene (Hg.) 1989
Reiner Padligur Verlag, Hagen 1989.
ISBN: 3-922957-22-6
Zum ersten Mal wurde für 1989/90 der Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene vergeben. Die von einer
namhaften Jury ausgewählten Texte werden mit dieser Anthologie einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht.
Josef Reding
Aufschließen, zuschließen! Zuschließen, aufschließen!
Ein Vorwort
"...Endlich der Aufruf. Ein junger Mann in Zivil, der mich begleiten soll, holt mich, ich passiere den
Kontrolltisch. Aufschließen. Zuschließen. Vorbei an den gewöhnlichen Warteräumen. Aufschließen. Zuschließen. Ich
bin im Inneren des Traktes. Stahlgespinste. Das Übliche. Der Warteraum gleich linker Hand ... Genau nach zwanzig
Minuten sagt der Begleiter: 'Die Sprechzeit ist abgelaufen.'
Ohne Zeichen von Aufmerksamkeit. Ein Uhrwerkmensch. Flankiert von zweien werde ich aus dem Inneren des Traktes
geführt. Aufschließen. Zuschließen. Am Kontrolltisch die Blechmarke 15 abgeben ..."
Diese Zeilen stehen im Buch "Kurz vor 1984" von Ingeborg Drewitz, der Freundin und Mitstreiterin im Verband
deutscher Schriftsteller und im PEN-Club.
Das monotone "Aufschließen. Zuschließen." ist dem Kapitel "Einzelhaft" entnommen, in dem Ingeborg einen Besuch
bei einem Gefangenen schildert - und die entwürdigenden Begleitumstände, entwürdigend für die Besucherin,
entwürdigend für den Besuchten, entwürdigend auch für die Justizvollzugsbeamten, aber die bemerken offenbar
diese Entwürdigung nicht.
Das Wort Entwürdigung ist von mir bewußt mehrfach gewählt worden. Sein Gegenpol heißt Menschenwürde. Für diesen
Begriff ist Ingeborg Drewitz von ihrer Jugend bis zu ihrem Tod eingetreten. Für diese Menschenwürde ist sie auf
die Straße gegangen, vor die Mikrofone des Rundfunks und die Kameras des Fernsehens, in die Gefängnisse, zu
Bedrängten und Zukurzgekommenen, und immer wieder an den Schreibtisch. Unter den engagierten Autorinnen in der
zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts neben Luise Rinser, Eva Zeller, Marie-Luise Kaschnitz, Erika Runge, Carola
Stern und Margarete Mitscherlich bleibt sie die wirksamste Anwältin der gesellschaftlichen Randgruppen.
Ein Ausschreiben für Literatur im Knast unter ihren Namen zu stellen, erschien den Trägern des Preises und der
Jury nicht nur angemessen, sondern notwendig. Mit dem Namen Ingeborg Drewitz konnte der Sinn des
Schreibwettbewerbs betont werden: authentische Texte aus der Haft die Öffentlichkeit zu veranlassen Einblick in
heutige Formen des Strafvollzugs zu nehmen und einen traditionalistischen Strafvollzug zur Menschenwürde hin zu
verändern.
Ein schwieriges Vorhaben für die angesprochenen Häftlinge. Ein nicht minder schwieriges Vorhaben für die
Auslober des Ausschreibens und für die Jury. Nach welchen Merkmalen sollte sie die eingereichten Texte
beurteilen? Reichen die üblichen literarisch-ästhetischen Maßstäbe? Oder braucht man nicht doch besondere
Kriterien, zusätzliche Sensoren, wenn man Prosa und Lyrik beurteilen will, die unter den Umständen der Haft
entstanden sind?
Die Jury hat sich die Arbeit nicht leicht gemacht. Ich zitiere nur aus dem Absatz drei des Sitzungsprotokolls
vom 31.8.89, mit dem die Jury sich eine Grundlage gibt für ihr Vorgehen: "Die Jury diskutiert und bewertet die
Texte. Ihr liegt eine durch die "Dokumentationsstelle Gefangenenliteratur" erstellte Synopse der schriftlichen
Bewertungen ...vor. Die Texte werden, da sie zum Teil sehr differente Bewertungen aufweisen, einzeln besprochen
und gewichtet. Von den nach einer ersten Vorauswahl in die Wahl genommenen 130 Texten (von 42 Autor/innen)
werden 25 Texte (von 16 Autoren und I Autorin) zur Aufnahme in die Anthologie vorgeschlagen. Dabei erwies es
sich als sinnvoll die Texte unter verschiedenen Gesichtspunkten zu prüfen und eine einheitliche Meßlatte zu
vermeiden. So werden Texte ausgewählt, die teils wegen ihrer beachtlichen literarischen Qualität herausragen,
teils aber auch wegen ihrer authentischen Sprache (z.T. ohne literarische Ambitionen) oder ihres
dokumentarischen Charakters ..."
Dieser Ausschnitt möge genügen, um darzustellen, wie facettenreich die eingegangenen Texte waren, und wie
flexibel sich die Jury darauf einstellen mußte.
Die Jury hatte kein Wunschbild, aber doch Erwartungen und Hoffnungen mitgebracht. So die Hoffnung, daß Männer
und Frauen sich gleichermaßen zur Teilnahme an diesem Schreib-Wettbewerb angesprochen fühlten. Auch wenn man die
Proportionierung mitbeachtet. also die geringere Zahl von inhaftierten Frauen, so liegt der weibliche Anteil
unter den Einsendungen noch weit unter dem rechnerischen Prozentsatz. Also ist dieses Buch weitgehend eine
Sammlung von Reflexionen aus dem Männerknast. Warum dies so ist, darüber wäre nachzudenken. Auffällig ist auch,
daß bei aller Vielfältigkeit von Themen aus dem Alltagsleben der Gefangenen eines fast gänzlich ausgeklammert
wurde: die Sexualität. Hier liegt offensichtlich ein Tabu vor. Die Jury schlägt vor, für kommende
Ausschreibungen den Bereich "Liebe, Sexualität, Kommunikation" im Knast einmal thematisch anzubieten.
Was die Mitarbeit der Leitungen von Justizvollzugsanstalten in den einzelnen Bundesländern angeht, so konnte bei
der Jury die Vermutung nicht ausgeräumt werden, daß in manchen Regionen die Information über die Möglichkeit der
Teilnahme an diesem Ausschreiben (Sich-Ausschreiben) nur unzureichend oder gar nicht weitergereicht wurde.
Welche Gründe sind da bei der Administration der einzelnen Anstalten vorhanden, das kreative Tun der Häftlinge
zu unterdrücken und damit die Beschreibung der Realität in ihrem Erfahrungsbereich?
Es war der Jury klar, daß kaum Texte unter den Einsendungen waren, die in die engere Wahl zum nächsten
Literatur-Nobelpreis gehörten. Dazu war die Gruppe der Angesprochenen zu unterschiedlich nach Bildung und
Herkunft, nach Wollen und Können. Aber der Prosatext von Kaspar Z. und der Gedichtteil von Ralf Axel S. hatten
auch in einem "normalen" Literaturwettbewerb unter professionellen Schriftstellern eine Chance auf einen der
vorderen Plätze gehabt.
Die Jury hat sich mit großer Anteilnahme mit den vorliegenden Texten beschäftigt. Sie erbittet diese Anteilnahme
nun auch von der Öffentlichkeit!