Gefangenen­literatur in Deutschland

Unter Gefangenenliteratur verstehen wir von Gefangenen im Gefängnis geschriebene bzw. in Erinnerung an das Gefängnis verfaßte Texte. Davon zu unterscheiden ist die Literatur, in der das Gefängnis als Motiv vorkommt, aber lediglich von außen beschrieben wird.

Es empfiehlt sich, den Begriff der Gefangenenliteratur (Randgruppenliteratur) weit zu fassen, um nicht durch traditionelle poetologische Kategorisierungen wichtige Schreibformen der Aufmerksamkeit zu entziehen.

Situation der Haft

Gefangenenliteratur berichtet von Erfahrungen, die sich der Kenntnis der Öffentlichkeit weitgehend entziehen. Sie ist von Gefangenen im Gefängnis oder in Erinnerung daran verfaßt, und ihr Thema ist, wenn auch nicht ausschließlich, die Situation der Haft. Daß die schreibenden Gefangenen so einseitig auf ihre Situation fixiert sind, hat seinen Grund. Weggeschlossen von der Öffentlichkeit, physisch und psychisch reduziert auf eine Minimalform von Leben, brauchen sie - schreibend, denkend, fühlend - alle Kraft, um mit dem fertigzuwerden, was sie bedrückt. Was immer an Reformen stattgefunden hat, im Kern ist das Gefängnis, um mit Goffman zu sprechen, eine "totale Institution" geblieben. Gefangenenliteratur ist Selbsthilfe, Notruf, Kampf um ein bißchen Menschenwürde, oft ein verzweifelter Versuch zu überleben. Wer sie liest, ist zumeist irritiert, bisweilen geschockt. Aber wer liest sie?

Strafe und deren Umsetzung

Ein Kontrast fällt auf: Während sich fast niemand um Gefangene und den Strafvollzug kümmert, sind doch alle sehr an "Verbrechern" und ihren Taten interessiert. Im Kriminalfilm, einem der beliebtesten Fernsehgenres, verfolgen Millionen Menschen täglich Abermillionen von "Verbrechen" und ihre Aufklärung. Wenn gar noch der Krimi real wird und das Geschehen live zu sehen ist, hält die Nation den Atem an.

Aber der Krimi endet konsequent da, wo das Problem beginnt: Bei der Strafe und deren Umsetzung im Strafvollzug. "Verbrechen" sind eine Sache der Unterhaltung, nicht des Nachdenkens. Das Gefängnis erscheint allenfalls als Kulisse (Motiv der Flucht). Dies wäre nicht weiter erwähnenswert, würden nicht in den Gefängnissen täglich rund 60.000 Gefangene - Männer, Frauen, Jugendliche - zugleich in Vergessenheit geraten: medial hinter Nebeln, architektonisch hinter Mauern unsichtbar gemacht.

Erstaunlich bleibt das Desinteresse einer Gesellschaft, die sich als Rechtsstaat per Verfassung gerade dem Schutz der Minderheiten verschrieben hat. Dieser Anspruch ist hinsichtlich der Randgruppe der Gefangenen nicht annähernd eingelöst. Woher die Berührungsängste?

Humanisierung des Strafvollzugs

Der Grundwiderspruch zwischen der Humanisierung des Strafvollzugs und deren gleichzeitiger Vereitelung steckt bereits im Kern der modernen Gefängnisreform, die um die Wende des 18. zum 19. Jahrhunderts (nach einigen Vorläufern schon im 16. Jahrhundert) geradezu schlagartig in Europa und den USA stattfand. Einerseits war diese Reform geprägt von den Gesichtspunkten der Demokratie, der Humanität und der Gerechtigkeit. Strafe sollte nun nicht mehr ein Willkür- und Gnadenakt des absoluten Herrschers sein, auch nicht mehr - öffentlich durchgeführt - eine symbolische Machtdemonstration. Sie sollte nicht mehr durch Prügel, Auspeitschung, Räder und Folterungen vielfältiger Art auf die Zufügung von körperlichem Schmerz und körperlicher Vernichtung ("peinliche Strafe") ausgerichtet sein. Vielmehr unterlagen alle Menschen jetzt formal dem gleichen Recht, das eine unabhängige Justiz zu sprechen hatte, und per Verfassung wurde ihnen auch im Gefängnis der Anspruch auf menschenwürdige Behandlung zugesprochen. Die "peinliche Strafe" verschwand (weitgehend), an ihre Stelle trat der Gedanke, die Gefangenen zu bessern (Einsicht in die Schuld) und sie zu einem sozial geregelten Leben nach der Gefängniszeit zu erziehen (Resozialisierung).

Dies sollte in Gefängnissen geschehen, die auf die Isolation von Strafgefangenen (Mauern, Zellen) und ihre permanente Überwachung (panoptische Architektur) zielten. In der Ruhe der Isolation sollten die Gefangenen Muße zur Reflexion ihrer Schuld finden, bei zumeist mechanischen Tätigkeiten sollten sie sich an den Arbeitsrhythmus gewöhnen.

Wie aber sollten die Gefangenen resozialisiert werden, wenn fast jede Kommunikation unterbunden wurde, oder wie sich über harte Zwangsarbeit in sinnvolle soziale Tätigkeiten fügen? Statt Resozialisierung fanden Isolation, Disziplinierung, psychische Zerstörung statt. Von Beginn der Reformen an war das Gefängnis gekennzeichnet durch eine humane und soziale Zielsetzung und deren gegenteilige Praxis.

Dieser Grundwiderspruch hat sich bis in die neueste Strafgesetzgebung und die aktuelle Vollzugspraxis fortgesetzt - nicht nur in Deutschland. Die hohe Rückfallquote (bis zu 80 %) spricht eine deutliche Sprache. Das Gefängnis kriminalisiert auch heute noch eher, als daß es resozialisiert. Mag sein, daß in der Gesellschaft eine Ahnung davon besteht und daß daher die auffällige Tabuisierung des Themas rührt. Von Strafvollzug ist nur dann die Rede, wenn es um die Forderung nach härteren Strafen geht, und kein Politiker kann mit dem Stichwort "Humanisierung des Strafvollzugs" Stimmen fangen. Dem humanistischen Ansatz (vgl. §§ 2 und 3 StVollzG) steht offenbar ein archaisches Straf- und Rachegefühl entgegen, das den Gefangenen selbst jenes Minimum an Menschenwürde versagt, welches das Grundgesetz für alle Bürger(innen) vorsieht. Kein Wunder, daß in der Gefangenenliteratur oft eine Gegenfrage gestellt wird: "Warum sollen wir über unsere Schuld sprechen, wenn die der Menschen draußen größer ist? Durch das, was sie uns antun, brechen sie unter der Hand selbst das Gesetz!"

Was geschieht hinter den Mauern?

Das Mindeste, was geschehen kann, ist Information über das, was hinter den Mauern geschieht. Dazu eignen sich natürlich an erster Stelle Texte von Gefangenen selbst. Wer sonst, wenn nicht sie als Betroffene, kann authentisch Auskunft über ihre Situation und ihr Befinden geben? Bezeichnend ist freilich, daß diese einfache Feststellung so ganz selbstverständlich nicht zu sein scheint. So wenig sich die Öffentlichkeit um die Gefangenen kümmert, so wenig nimmt sie Notiz von ihrer Literatur. Allenfalls pflegt man über Randgruppen zu sprechen, nicht mit ihnen, geschweige denn man hörte ihnen geduldig zu. Als Boudieu in jüngster Zeit die Anregung gab, eben dies zu tun: Betroffene selbst sprechen zu lassen, bevor sie zum Objekt soziologischer Analyse werden, hat er in der internationalen Publizistik hohes Aufsehen erregt. Verwunderlich und doch auch nicht.

Die Nichtbeachtung der Gefangenenliteratur - jahrzehntelang von den zuständigen Wissenschaften, wie Germanistik, Publizistik oder Sozialwissenschaft, praktiziert - ist ein Beispiel für das gesellschaftliche Desinteresse an der Selbstartikulation von Randgruppen. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Gustav Radbruch, herausragender Strafrechtler, Justizminister der Weimarer Republik und Strafvollzugsreformer, war eine solche Ausnahme. Beim Nachdenken über notwendige Reformen im Knast tat er das Selbstverständliche: Er las bei Betroffenen über ihre Erfahrungen nach, bei Dostojewski zum Beispiel und in anderen Werken der Weltliteratur, die aus der Feder Gefangener hervorgegangen waren. Wenige folgten ihm nach: aus der Kriminologie Heinz Müller-Dietz und Horst Schüler-Springorum, aus der Germanistik Sigrid Weigel, aus den Sozialwissenschaften Helga Qremer-Schäfer, damit sind die meisten bereits genannt.

Dabei gibt es Gefangenenliteratur, seit es Gefangene gibt. Schriftsteller und Schriftstellerinnen standen, insofern sie durch die Exaktheit und Wahrheit ihrer Sprache und Realitätswahrnehmung definiert sind, sehr oft mit einem Bein (oder auch beiden) im Gefängnis. Aber auch in der bundesdeutschen Gegenwart existieren Texte von Gefangenen in großer Zahl. Was immer man von der widersprüchlichen Strafvollzugsreform halten mag, die in ihrem Zuge durchgesetzten Lockerungen sind immerhin mitverantwortlich dafür, daß Schreiben in deutschen Gefängnissen heute nicht mehr - wie in der Vergangenheit und heute noch in den Gefängnissen der meisten Länder der Welt - untersagt ist, sondern bisweilen sogar gefördert wird.

In Deutschland sind seit dem zweiten Weltkrieg etwa 360 Bücher von Gefangenen erschienen, dazu kommen seit Anfang der siebziger Jahre in flukturierender Form ca. 50 Gefangenenzeitungen Teils werden die Publikationen von Gefangenen selbst organisiert, teils erfahren sie Unterstützung durch Schriftsteller und Schriftstellerinnen draußen (Martin Walser, Luise Rinser, Ingeborg Drewitz, Astrid Gehlhoff-Claes), durch Herausgeber von Zeitschriften (Johann P. Tammen) oder Verlage (Reiner Padligur Verlag). Seit 1988 existiert der Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis, der sich die Unterstützung schreibender Gefangener zum Ziel gesetzt hat. Die Dokumentationsstelle Gefangenenliteratur an der Universität Münster archivierte bis ins Jahr 2007 systematisch Gefangenenliteratur, vermittelte sie in die Öffentlichkeit und koordinierte, so weit es ging die Arbeit schreibender Gefangener. Diese Dokumentationsstelle wurde 2007 aufgelöst. Einige Bücher aus dem Projekt wurden damals u.a. in die Germanistik-Bibliothek übernommen. Der interessante Teil der Dokumentation bestand aber nicht aus diesen Büchern, sondern aus einer Sammlung grauer Literatur und einer fast vollständigen Sammlung an Zeitungen aus Psychiatrien. Über den Verbleib dieser Sammlungen ist leider nichts bekannt, weil die Dokumentationsstelle seinerzeit darüber eigenständig verfügt hat. Einige Zeitungen sind wohl ans Bundesarchiv abgegeben worden. Unterlagen zur Geschichte der Dokumentationsstelle sind an das Archiv der Universität Münster gegangen; Interessenten, die Unterlagen suchen, sollten daher auch dort nachfragen.

Texte von Gefangenen zugänglich machen

Der Begriff Gefangenenliteratur ist weit gefaßt, er bezeichnet im Prinzip alle authentischen Texte von Gefangenen ohne einengenden literaturästhetischen Maßstab. Es gibt Texte, die von höchster Qualität auch nach Maßstäben des einschlägigen Literaturbetriebs sind, es gibt aber auch Texte, die beeindrucken, ohne diesem recht windigen Maßstab gerecht zu werden. Sie sind auf ihre Weise gute Literatur. Wir haben einige Texte - trotz ihrer sichtbaren sprachlichen Unvollkommenheit - wegen ihrer Authentizität herangezogen. Der autobiographische Bericht des Jugendlichen Thorsten S. z.B. dürfte weniger unter literaturästhetischen denn unter sprach- bzw. literatursoziologischen und jugendkriminologischen Gesichtspunkten interessant sein. Er ist ein Dokument von der Art, wie es sie leider wegen der Ausgrenzung dieser sozialen Schicht aus der Gesellschaft viel zu wenig gibt.

Hier und da, zumal bei Lehrern und Lehrerinnen eines traditionellen Literaturunterrichts, stößt der Gegenstand Gefangenenliteratur natürlich noch auf Skepsis. Es sei aber darauf hingewiesen, daß inzwischen Erfahrungen mit Gefangenenliteratur u.a. als Gegenstand von Leistungskursen und als Abiturthema (IngeborgDrewitz-Gesamtschule Gladbeck) vorliegen. Zu bedenken ist weiter, daß Literatur in der Moderne, selbst wenn sie aus dem Bürgertum kam, immer schon ein kritisches Randphänomen darstellte - Thema schon des "Tasso", Es scheint, als sei vom Rande her das Zentrum unserer Gesellschaft besser zu beleuchten als aus der distanzlosen Mitte. Insofern ist die Genauigkeit vieler Texte der Gefangenenliteratur zu begreifen: als Charakteristik der Welt drinnen, als Spiegel der Welt draußen. Dies unter anderem macht die Faszination der Texte auf viele Schülerinnen und Schüler aus. Der Blick, scheinbar auf existentielles Randdasein gerichtet, kehrt sich sehr schnell in unsere Richtung. Eine spannende Frage für Autor(innen) und Leser(innen): Was passiert lesend mit uns? Eine Frage als Beginn eines Dialogs mit Texten und - was organisatorisch möglich ist - mit schreibenden Gefangenen.

Wir haben uns bei der Auswahl auf deutsche Gefangenenliteratur der Gegenwart beschränkt. Wer historische deutschsprachige Texte behandeln will, sei auf das Werk von Sigrid Weigel "Und selbst im Kerker frei ..." verwiesen. Wir wollten Literatur bewußt auf die Situation jetzt beziehen: Voruteile, die es über Gefangene, Verbrechen, Gefängnis in überhohem Maße gibt, werden sonst nur zu schnell mit dem Hinweis verfestigt, die gelesenen Texte seien veraltet, heute, um ein Beispiel zu nennen, sei Gefängnis "Hotelvollzug", es gehe allen viel zu gut und lebenslänglich gebe es ohnehin nicht mehr. Solche Vorurteile werden geschürt durch eine sensationsorientierte Presse, die uns glauben machen will, wir könnten uns erst dann in Sicherheit wiegen, wenn die "Verbrecher" wie einst hinter hohen Festungsmauern verschlossen sind. Wir haben einige Beispiele aus der Regenbogenpresse mit in unser Handbuch aufgenommen, um Skepsis und Widerspruch gegenüber einer derart oberflächlichen Berichterstattung zu wecken, von der sich eine sachliche Unterrichtsreihe in der Schule positiv abgrenzen kann. Jeder aktuelle Text ist ein Gegenbeweis gegen die von Teilen der Presse geschürten Vorurteile in der Gesellschaft.

Authentische Texte über den Strafvollzug in der DDR haben wir ausgeklammert, obschon sie inzwischen schon einen beachtlichen Bestand ausmachen Aufgenommen haben wir hingegen einige wenige Texte, die von Gefangenen der neuen Bundesländer nach 1989 geschrieben wurden. Die Hoffnung auf eine Humanisierung des unsäglichen Strafvollzugs der DDR war groß. Tatsächlich gab es eine Reihe von Reformen - freilich keine wirkliche Humanisierung. Der Westen exportierte sein widersprüchliches Knastmodell, statt es endlich grundlegend zu überdenken, in den Osten und erstickte weitergehende Reformen. So sprechen denn auch die Texte aus den neuen Bundesländern von der gleichen Zerstörungsfunktion des modernen Strafvollzugs wie die westlichen. Gefangenenliteratur ist eine gesamtdeutsche Thematik geworden - Ausdruck des gemeinsamen Elends, aber auch Ausdruck der Selbstbehauptung und des Kommunikationswillens einer eingemauerten Minderheit.

Eine Reihe von Lehrerinnen und Lehrern aus verschiedenen Schultypen und -stufen hat, von uns angesprochen, Gefangenenliteratur im Unterricht behandelt und etliche Texte aus diesem Handbuch "ausprobiert". Ihnen allen sei für ihr Engagement herzlich gedankt. Sie haben durchgehend ein positives Rückecho gegeben und uns bei der Konzeption dieses Handbuchs unterstützt. Wir haben ihre Erfahrungen eingebaut, einige ihrer Anregungen sind abgedruckt: stichwortartig, eine schulmeisterliche "U-Einheit" wollten wir zugunsten lebendigen Umgangs mit dieser Art Literatur niemandem (auch uns nicht) zumuten. Es hat sich gezeigt, daß das Thema in verschiedenen Schulfächern (Deutsch, Sozialkunde, Pädagogik, Religion) auf Interesse stößt. Eine altersmäßige Zuordnung der Texte zu einzelnen Schulstufen haben wir in einer Skizze versucht. Manche Lehrer und Lehrerinnen haben einen alternativen Einstieg in die Reihe gewählt, indem sie die Schülerinnen und Schüler zunächst mit Beispielen der Medienberichterstattung über Kriminalität und Strafvollzug konfrontiert haben. Hier und da hat sich ein Jugendbuch oder ein Film als geeignet erwiesen, um die Gefangenenliteratur zu begleiten und zu kommentieren. Wir haben einige mit knappen Kommentaren vorgestellt. Wer über die zur Verfügung gestellten Texte und Themen hinausgehen wollte, erhielt Adressen zur Materialsuche und Orientierung. So konnten beispielsweise Kontakte zu Autoren und Autorinnen geknüpft werden, die Lesungen an Schulen durchführten.

Da Gefangenenliteratur sehr stark situationsorientiert ist, kann sie nicht behandelt werden, ohne ein bestimmtes Maß an Kenntnissen über den Strafvollzug zu besitzen. Wir haben daher einige uns notwendig erscheinende Grundinformationen hinzugefügt: von uns verfaßte "Stichworte", ergänzt um wichtige Dokumente: eine Liste typischer Ausdrücke aus dem Knastjargon, eine Liste von deutschen Gefangenenzeitungen, Statistiken und Zeitungsartikel über Kriminalitätsentwicklung und -theorien, über quantitative und qualitative Daten der Gefangenen, Ausschnitte aus dem Strafvollzugsgesetz, Ausschnitte aus einer Hausordnung, veranschaulichende Grafiken etc.

Täter zu Opfern machen?

Hier und da ist der Vorwurf zu hören, wer sich mit Gefangenen beschäftige, mache die Täter zu Opfern und vergesse die wirklichen Opfer. Dies kann nicht Sinn der Beschäftigung mit Gefangenenliteratur sein. Wir stellen allerdings die Frage, ob diese Art des Strafens, die tatsächlich aus Tätern Opfer macht, eine angemessene Weise ist, auf Verfehlungen zu reagieren. Insofern spüren wir den Folgen dieser Strafpraxis nach und finden, daß sie häufig genug ein Skandalon auf Kosten einer Minderheit ist. Wie eine Alternative aussähe, ist nicht Thema der Gefangenenliteratur. Aber es ist eine ganz und gar unbeantwortete Frage, die sich dem, der sich den Erfahrungstexten der Gefangenen öffnet, als eine höchst dringliche stellt.

Auf der einen Seite wäre genauer über die Ursachen von Straftaten nachzudenken. Wenn die Kriminalitätsrate zwischen 1988 und 1993 bei den 14-21-jährigen um über 50 % (mit weiter steigender Tendenz 1994/95) zugenommen hat, wäre dies allemal ein Anlaß, über die neue Armut in Deutschland, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher und die Konsum- und Ellenbogengesellschaft nachzudenken. Eine bessere Sozial- und Arbeitsmarktpolitik wäre das sinnvollste Mittel, Straffälligkeit zu reduzieren. Auf der anderen Seite gibt es, wenn Strafe denn sein muß, Ansätze von alternativen Vorstellungen, über die zu diskutieren wäre. Sie werden wohl auch den Opfern gerechter. Und den Gefangenen.
Prof. Dr. Helmut H. Koch, Münster



Menschen im Gefängnis

Menschen im Gefängnis

Menschen im Gefängnis: literarische Selbstzeugnisse, authentische Texte und Materialien für den schulischen und ausserschulischen Unterricht
ISBN 3-930982-03-X
Forum Verlag Godesberg GmbH,
Nicola Keßler - Uta Klein - Helmuth H. Koch - Elisabeth Theine...
Bonn/Mönchengladbach
Bonn 1996

1. Wunsch nach Kommunikation

Da ist zum einen der Wunsch nach Kommunikation. Mauern, perfektionierte Sicherheitsvorkehrungen wie restriktive Besuchsregelungen oder Postkontrollen lassen die Realität draußen in immer schemenhaftere Ferne verschwinden. Briefe sind daher besonders wichtig, und es verwundert nicht, daß das Schreiben von Briefen an außenstehende Personen einen Hauptteil der Schreibaktivitäten ausmacht.

2. Bedürfnis nach Information

Da ist zum zweiten das Bedürfnis nach Information, und zwar sowohl - wegen der Abgeschlossenheit von fast jeglicher Öffentlichkeit - um Informationen zu erhalten (z.B. über Möglichkeiten, im Gefängnis eigene Rechte wahrzunehmen), als auch um Informationen an andere im Gefängnis und nach außen zu geben, um Hilfe zu leisten oder um Hilfe zu rufen. Insofern machen Aufsätze, Dokumentationen, Erfahrungsberichte einen weiteren großen Teil der Gefangenenliteratur aus (vor allem in Gefangenenzeitungen publiziert).

3. Sich seiner selbst vergewissern

Und schließlich existiert ein starkes, geradezu existentielles Gefühl, sich schreibend vom äußeren Druck zu befreien, der Selbstentfremdung entgegenzuwirken, sich seiner selbst zu vergewissern, schreibend Widerstand gegen die Zerstörung des Ich zu leisten. Gedichte sind aufgrund von Kürze und Pointiertheit die Form, zu der Gefangene angesichts ihrer explosiven inneren Unruhe und Aggression bevorzugt greifen.

Den Gefangenenautoren geht es nicht um die Lust am sprachlichen und formalen Experiment an sich, um den schönen Schein, um den Genuß von Kunst, um kulturbetriebliche Eitelkeit. Es geht um elementarere Dinge, um Leben, Überleben, Kommunikation mit Menschen drinnen und draußen, um Selbstfindung, Selbstbefreiung, um Information, Dokumentation, um Protest und Widerstand.

Natürlich beschränkt sich das Schreiben nicht auf die drei genannten Hauptformen des Schreibens, die Briefe, die Informations- und Erfahrungsberichte und die Gedichte. Nicht zu übersehen ist etwa die größere Zahl von Erzählungen, die einerseits die pointierte Darstellungsweise für sich haben, andererseits die Möglichkeit der expliziten Reflexion des Gefängnisalltags[1] oder die Verwischung der Bereiche des Realen und Surrealen. In F. Kamphausens dokumentarischem Minutenstil der "Psychiatrisierung" erweist sich die Wirklichkeit des bürokratischen Gefängnisalltags, je exakter die Beschreibung ist, als umso grotesker.[2]

Auffällig unterrepräsentiert ist das Tagebuch, dient es häufig doch für den Durchschnittsbürger als Form der Alltagsbewältigung, als Schuttabladeplatz für Gefühle und Gedanken. Dem Schreiben von Tagebüchern steht im Gefängnis die Furcht entgegen, daß es bei der nächsten Zellenfilzung entdeckt und negativ gegen den Schreiber ausgelegt werden kann.[3]

Die größere Zahl von Autobiographien geht zumeist zurück auf Anregungen oder Bitten von außen, den Verlauf des Lebens darzustellen, um durch derlei authentische "Sozialreportaqen" (M. Walser) auf eine Realität aufmerksam zu machen, die vor den Augen der Öffentlichkeit existiert, dennoch aber nicht wahrgenommen wird. Bisweilen dient sie auch zu gerichtlicher Verwendung. Die Schreiber empfinden das Verfassen als klärend und befreiend, wählen aber die Form der Autobiographie von sich aus meistens nicht, weil es ungeheure Kraft verlangt, den eigenen Weg, d.h. die Kette persönlicher Katastrophen zu rekonstruieren, zumeist ohne große Hoffnung auf eine reale Lebensalternative.[4]

Erfreulich ist, daß inzwischen auch eine Reihe von Romanen entstanden sind, etwa B. Driests Darstellung der vom Gefängnissystem systematisch produzierten "Verrohung des Franz Blum"[5] oder die komplexe epische Darstellung der Gefänggnisrealität als sinnlose zerstörerisch wirkende Zeit [6] oder auch der bisher in dieser Form einzigartig gebliebene Versuch eines Schelmenromans, in dem sämtliche bürgerlichen Werte auf den Kopf gestellt werden.[7] Zu wenig ist bisher über Theaterinszenierungen im Gefängnis bekannt, die es, wovon man meist nur zufällig hört, immer wieder gibt.

Auffällig ist häufig die fragmentarische, suchende Form. Die Heim- und Heroinbiographie Seibts etwa besteht gewissermaßen aus zwei großen Bruchstücken, hinzu kommen Fragmente, die weitere Lebensepisoden beschreiben, Gerichtsakten, Gedichte, Briefe, Tagebuchaufzeichnungen aus dem Gefängnis, ein resümierenndes Nachwort.[8]

Welche Formen die Autoren und Autorinnen auch immer wählen, es sind ihnen gemeinsam die starke Prägung durch die Gefängnisrealität und die Authentizität eigener Erfahrungen in Heim und Knast. Die Romane z.B. lesen sich wie Autobiographien oder Tagebücher, sind gegenüber der eigenen Erfahrung oft nur wenig verschlüsselt. Darauf weisen entsprechende Klappentexte hin ("Der Autor war selbst...Jahre im Knast") oder die Autoren bzw. Autorinnen selbst: "Alles, was ich hier niedergeschrieben habe, beruht auf Tatsachen". Feraru begründet die Form der fiktionalen Darstellung sehr praktisch: "Um mich oder noch inhaftierte Kollegen vor neuen Strafanträgen und Repressionen zu schützen, war es allerdings nötig, einige Vorkommnisse leicht abzuändern." Diese Art von Literatur hat Tradition, Äsop läßt grüßen: literarische Verschlüsselung als List der Schwachen.

In einem Interview, das in der hervorragenden literarischen Gefangenenzeitschrift "Litsignale" (leider eingestellt) veröffentlicht worden ist, spricht Karlheinz A. Barrwasser verschiedene Schreibmotive an.[9]

"Hier habe ich keine andere Möglichkeit, kein anderes Ventil, hier muß der ganze Driß, der Schmerz, die Aggression, Wut, Ohnmacht, diese beschissene Angst aufs Papier, damit ich mich wieder begreifen, fühlen kann. Gut, ich könnte auch die Zelle kleinschlagen ... , ich kann auch dem Schließer eine aufs Maul hauen ...".

Schreiben als Herauslassen der Aggression, Kompensation aufgestauter Gefühle, Selbstvergewisserung angesichts von Angst und Ohnmacht.

"Ich schreie meinen Haß auf dieses indiskutable System hinaus und versuche dabei, den Knast mit all seinen täglichen Schikanen und Repressionen etwas transparenter zu machen."

Schreiben als Ausdruck von Haß (einem der zentralen Begriffe in der Gefangenenliteratur) und zugleich als Instrument der kritischen Analyse und Aufklärung.

"Sie haben erkennen müssen, daß ich mit simplen Worten die Mauern durchbrechen kann... Du kannst Schreiben schon als ein gutes Stück Widerstand ansehen, du läßt dir nicht die Birne vernebeln, willst dir nicht den Anspruch auf das eigene, eigenständige Leben austreiben lassen."

Schreiben als Herstellen von Öffentlichkeit, Mauern überwinden, Festhalten an Menschenwürde und Selbstbewußtsein, als Widerstand. Schreiben schließlich auch als Hilfe zum Überleben: "Ich habe mal geschrieben: Wenn ich nicht mehr schreiben kann, würde ich mich hinlegen, die Decke über die Augen ziehen und sterben. Glaub mir, das ist noch exakt die Situation hier."

Schreiben ist für viele Gefangene existentiell notwendig, es ist die einzige Form der Selbstartikulation, oft das einzige Sprachrohr. Aber es ist, wie Zahl sagt, ein "monologisches Medium".[10] Das Schreiben selbst ist ein Akt in Einsamkeit; sofern darauf überhaupt ein Echo erfolgt, geschieht dies zeitlich stark versetzt.

Wenn das Schreiben von vielen dennoch als notwendig erachtet wird, dann ist dies ein Zeichen der Kommunikationsfeindlichkeit des Gefängnisses. Es ist Ersatz für fehlende private Gespräche, die im Gefängnis praktisch nicht stattfinden. Gewiß gibt es Kommunikationsformen, die sich unserer Kenntnis weitgehend entziehen: das Schreiben von Kassibern, das Klopfen an Wände und Rohre, das wortlose Sprechen mit Gesten und dem Körper von Fenster zu Fenster, das Sprechen über sanitäre Leitungen, das Pendeln usw.. Es gibt natürlich vielerlei Alltagsgespräche. Doch diese sind, worüber Gefangene häufig schreiben, geprägt von Imponiergehabe, Konkurrenz, Machtdenken, Opportunismus (zumal im Männerknast) und erreichen selten den Charakter von Privatheit. Schreiben ist zugleich Refugium und Ausdruck bedrohter Privatheit.

Über die soziale Herkunft der Autoren in Gefangenenzeitschriften, Anthologien, eigenen Buchveröffentlichungen gibt es bislang keine Untersuchungen. Man wird von einem Paradox ausgehen müssen. Auf der einen Seite ist die Zahl derer, die sozial und bildungsmäßig zur Unterschicht gehören, verglichen mit der Gesamtgesellschaft, überproportional hoch. Bekanntlich sind bis zu zwei Drittel der Inhaftierten ohne Schulabschluß oder abgeschlossene Berufsausbildung, ein beträchtlicher Prozentsatz (10% und mehr) muß sogar zu Analphabeten gezählt werden. Insofern wäre eigentlich von einer überproportional vorhandenen Unfähigkeit oder Interesselosigkeit am Schreiben auszugehen. Auf der anderen Seite wird häufig berichtet, daß die Nachfrage nach Gefangenenzeitungen - abhängig natürlich von ihrer Qualität - bedeutend höher ist, als der Sozial- und Bildungsstatus der Gefangenen erwarten läßt. Empirische Untersuchungen über das Leseverhalten von Gefangenen bestätigen diesen Eindruck. Ähnliches läßt sich zum Schreibverhalten konstatieren. Die Gefängnissituation veranlaßt viele zum Schreiben, die vorher nicht geschrieben haben, auch Gefangene aus unteren Bildungsschichten. E. Steffen, selbst einer der sprachgewandtesten Autoren der Gefangenenliteratur nach 1945, ruft seine Mitgefangenen auf, sich nicht aus Ehrfurcht vor etablierten literarischen Normen vom Beschreiben der Wahrheit abhalten zu lassen.[11]

"He, Ihr! Warum sprecht Ihr nicht? Ihr müßtden Mund aufmachen! Macht doch den Mund auf! Wovor habt Ihr denn Angst? Ihr braucht doch keine Literatur zu machen..., sagt, was sie Euch angetan haben. Schreibt aus Krankenhäusern, Zuchthäusern, Irrenanstalten, aus der Enge Eures verängstigten, gedemütigten Daseins... Ich könnte eine Story daraus machen und sie einen Roman nennen. Doch auf Literatur pfeife ich. Ich will die Wahrheit sagen und zeigen, daß es die Wahrheit ist. Eure dreckige Welt. Ich will Euch zeigen, was alles unter Euch geschieht, in diesem Moment, in allen Momenten, während Ihr mich selbstzufrieden einen Verbrecher nennt..."

Viele werden durch Not, Verzweiflung und Wut geradezu zum Schreiben getrieben, und es ist keine Frage der Schichtenzugehörigkeit, welche Qualität ihre Texe haben. So sind auch unter den bekannteren Autoren etliche, die - völlig untypisch im Vergleich mit dem gesamtgesellschaftlichen Befund - keinen höheren Schulabschluß aufzuweisen haben (Feraru, Kamphausen, Sonntag, R.H. - in einigen Publikationen der Gefangenenliteratur bleiben die Autoren anonym -, Kruklinski usw.). Und wenn hier und da Sprach- und Formgebrauch den etablierten Normen nicht ganz entsprechen, ist dies allemal noch kein negatives Qualitätsmerkmal. Im Gegenteil. Gewiß ist Wolfgang Werners Autobiographie keine "höhere" Literatur.[12] Aber ihre Sprache ist von derartiger Konkretheit, Sinnlichkeit, Plastizität - durchsetzt mit Ansätzen von reflexiver Distanz -, daß eine Welt anschaulich vor Augen steht. Eine Welt, die so in der herkömmlich gefeierten Literatur nicht vorkommt.

Dies soll kein zynisches Plädoyer dafür sein, durch äußeren Druck die Kreativität zu erhöhen. Schlußfolgerungen daraus müßten anders aussehen: Wenn Schreiben existentiell für viele so notwendig ist, muß es gefördert werden, statt es, wie in der letzten Zeit zunehmend, zu behindern. Und wenn sich Personen, ja Gruppen schreibend äußern, die dies sonst nicht tun, sollte die Öffentlichkeit - Richter, Pädagogen, Psychologen, warum nicht auch Literaturwissenschaftler? - um so genauer hinsehen und daraus lernen.

Heinrich Böll spricht häufiger von einer Literatur des "Abfalls": "Abfall ist ja vieles in unserer Gesellschaft, in den Augen der meisten. Auch Menschen; abfällig im moralischen wie juristischen Sinne ... Und so produziert unsere - aber nicht nur unsere - Gesellschaft permanent abfällige Existenzen, die man als Abfall betrachtet, und sie sind, meine ich, der wichtigste Gegenstand der Literatur, der Kunst überhaupt."[13]

Anmerkungen

[1] So etwa in Ralf Sonntag: Grenzwechsel. Erzählungen. Dortmund: Reiner Padligur Verlag 1986.
[2] Vgl. Felix Kamphausen: Die Psychiatrisierung, Dortmund: Reiner Padligur Verlag 1981.
[3] So auch formuliert von Felix Kamphausen in: Zu früh zu spät. Aufzeichnungen aus dem Jugendstrafvollzug, Frankfurt, Berlin, Wien: Ullstein 1981.
[4] Aus dem gleichen Grund scheuen Gefangene im allgemeinen eine Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld. Trauerarbeit verlangt Ich-Stärke, die aber wird durch den Knast, sofern nicht ohnehin unterentwickelt, vernichtet. Sie verlangt das menschliche Gespräch, das aber wird durch den Knast unterbunden. Insofern ist die Bewältigung der eigenen Schuld selten Thema der Gefangenenliteraatur. Unsere Auswahl von Texten unter der Rubrik "Schuld" bedurfte langer Sucharbeit und ist zum Teil auch erstmals veröffentlicht. Insbesondere die Texte "Bilanz nach fünf Jahren" von Klaus Wachter (S. 64), "Ohne Titel" von Martin (S. 67) und "Opfer-Täter-Täter-Opfer" von Heinz Hartmann (S. 71) stellen hinsichtlich der Offenheit, mit der die Autoren über ihre Tötungsdelikte reflektieren, eine absoolute Ausnahme dar.
[5] Burkhard Driest: Die Verrohung des Franz Blum, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1974.
[6] Peter Feraru: Das Messer der Hoffnung, Karlsruhe: Von Loeper Verlag 1983.
[7] Peter-Paul Zahl: Die Glücklichen. Schelmenroman, Berlin: Rotbuch 1979.
[8] Rainer Seibt: Ich möchte in eurer Liebe baden. Eine Knast- und Heroinbiographie, Bensheim: Päd. extra Buchverlag 1981.
[9] Karlheinz A. Barwasser: Sich als starke Mauern begreifen. Schreiben im Knast, Litsignale 3/81.
[10] Ralf Schnell (Hg.): Schreiben ist ein monologisches Medium. Dialoge mit und über Peter-Paul Zahl, Berlin: Verlag Ästhetik und Kommunikation 1979.
[11] Ernst S. Steifen: Rattenjagd. Aufzeichnungen aus dem Zuchthaus. Lebenslänglich auf Raten. Gedichte, Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1980.
[12] Wolfgang Werner: Vom Waisenhaus ins Zuchthaus, Bielefeld: AJZ-Verlag 3. Aufl. 1985.
[13] Heinrich Böll: Werke IV. Interviews 1961-78, hrsg. v. B. Balzer, Köln 1978.


Einzelne Texte:

(S. 31-32)
warten

(S. 38)
Gedanken

(S. 49-50)
Es ist viel schlimmer, die Fähigkeit zu lieben zu verlieren, als eingesperrt zu sein!

(S. 58)
chris hallo



Gefangenenliteratur.
Sprechen - Schreiben - Lesen in deutschen Gefängnissen

Bücher zur Gefangenenliteratur aus Deutschland

Uta Klein, Helmut H. Koch (Hg.):
Gefangenenliteratur. Sprechen - Schreiben - Lesen
in deutschen Gefängnissen.
Hagen, Reiner Padligur Verlag 1988.

Wie sieht die Kommunikation hinter den Mauern aus? Welche Sprache wird gesprochen? Welche anderen Formen der Selbstäußerung gibt es? Welche Möglichkeiten werden den Gefangenen überhaupt eingeräumt, sich mitzuteilen? Untereinander und über die Mauern hinweg? Welche Formen von Zensur und Repression stehen dem entgegen?
Dieses Buch versucht erste Antworten, Anstöße zu geben. Es ist interdisziplinär angelegt, um vor lauter Detailanalysen nicht den Kernpunkt aus dem Auge zu verlieren: das Gefängnis als System und seine Auswirkungen auf die in ihm eingesperrten Menschen.

Die Autoren und Autorinnen dieses Buches kommen aus den Rechtswissenschaften, der Sprach- und Kommunikationswissenschaft, der Diplompädagogik, der Sozialarbeit, der Kunst- und Literaturwissenschaft, aus der Justizverwaltung und aus dem schriftstellerischen und journalistischen Bereich. Auch Beiträge von Gefangenen selbst sind aufgenommen, denn wer ist kompetenter als sie?



Schreiben, um zu überleben

Schreiben, um zu überleben

Nicola Keßler
Schreiben, um zu überleben
Studien zur Gefangenenliteratur

Mit einem Geleitwort von Martin Walser
und einem Vorwort von Helmut H. Koch

MG 2001
Forum Verlag Godesberg
ISBN 3-930982-78-1


Auszug daraus:
Seite 13 ff.

Helmut H. Koch: Schreiben im anachronistischen Strafvollzug

I
Es ist nicht die Zeit, in der man sich denjenigen widmet, die aus der Gesellschaft herausfallen. Eher scheint es umgekehrt. Es fallen vermehrt Menschen aus der Gesellschaft, ohne daß man es bemerkt. Darüber zu sprechen, gar öffentlich, wird als Störung empfunden. Landauf landab herrscht ein merkwürdig organisiertes Schweigen über das, was sich der Euphorie des neuen gesellschaftlichen Fortschritts, genannt Globalisierung und neue Technologie, nicht fügt. Wo gehobelt wird, fallen Späne, und wer in einer Risikogesellschaft nicht gewinnt, verliert halt. Daß es Abermillionen an der äußeren Peripherie unserer "Zivilgesellschaft" sind, die den Zipfel des rasanten Fortschritts nicht erwischt haben und ohne Chance bleiben, ist bekannt. Aber es lebt sich gut damit. Daß es auch innerhalb unserer Gesellschaft, sozusagen an der inneren Peripherie, beachtliche Zahlen von Menschen gibt, die am Rande stehen oder längst außerhalb, ist ebenfalls bekannt. Und bleibt doch merkwürdig unsichtbar, hat kein Gesicht, keine Sprache, keine Präsenz. Es verschwindet, so scheint es, hinter dem Nebel der Medien, den Schranken der Vorurteile oder realen Mauern von Institutionen, z.B. Gefängnissen.

II
Pierre Bourdieus Werk "Das Elend der Welt" hat wohl deshalb so große Aufmerksamkeit gefunden, weil es sich der beschriebenen Situation konsequent stellt. Bourdieu widmet sich als Soziologe nicht nur dem Problem der Marginalität im allgemeinen, sondern wendet sich einzelnen Menschen zu, läßt sie sprechen, hört zu, registriert, räumt ihrer Sprache in seinem Werk einen herausragenden Platz ein und beschränkt sich selbst auf eine vorsichtige Umschreibung und anteil nehmende Ausdeutung des Gesagten. Er spricht nicht von oben herab über sie, sondern auf gleicher Höhe mit ihnen, degradiert sie nicht zum Objekt wissenschaftlicher Begierde, sondern respektiert ihre Sprache und ihre Würde.
So wenig selbstverständlich eine solche Haltung gegenwärtig ist, so sehr steht sie doch in der Tradition europäischer Kultur. Bourdieu selbst beruft sich auf Spinoza. Günter Grass, zu dessen siebzigjährigem Geburtstag Bourdieu als Partner eines langen, aufregenden Gesprächs in den Medien zu sehen war, stellt seine Nähe zu Bourdieu heraus. Auch er, so Grass, habe das Anliegen, in seiner Literatur den "kleinen Leuten" zur Sprache zu verhelfen und Geschichte "von unten" zu schreiben. Er verweist zugleich auf die Tradition der Volkskultur. In der Tat macht die Selbstartikulation der "kleinen Leute" ja einen wesentlichen Teil unserer Kultur aus, in den Mythen, Märchen, Sagen, Fabeln, Legenden, Volksliedern, Schwänken, den unterschiedlichsten Formen des Volkstheaters. In all diese zum Teil frühgeschichtlichen literarischen Formen sind die Erfahrungen der Menschen eingeschrieben, Schmerz und Leid, aber auch Hoffnung und Glück. Wie sehr sie ihre Wirkung bis heute bewahrt haben, ist aus unzähligen pädagogischen, theologischen, psychologischen, neuerdings vermehrt auch poesietherapeutischen Kommentaren zu entnehmen. Eine Schriftstellerin wie Christa Wolf registriert beim Gedankenspiel, was wäre, wenn sie solche Literatur bzw. deren existentielle Bedeutung niemals kennengelernt hätte: "Beginne ich in mir abzutöten: das makellose, unschuldig leidende Schneewittchen und die böse Stiefmutter, die am Ende in den glühenden Pantoffeln tanzt, so vernichte ich ein Urmuster, die lebenswichtige Grundüberzeugung vom unvermeidlichen Sieg des Guten über das Böse. Ich kenne auch keine Sagen, habe mir nie gewünscht, an der Seite des hürnenen Siegfried dem Drachen gegenüberzutreten; niemals bin ich vor einem Rauschen im finsteren Wald erschrocken: Rübezahl! Die Tierfabeln habe ich nicht gelesen, ich verstehe nicht, was das heißen soll: ,listig sie ein Fuchs', ,mutig wie ein Löwe'. Eulenspiegel kenne ich nicht, habe nicht gelacht über die Listen der Schwachen, mit denen sie die Mächtigen besiegen. Die Sieben Schwaben, die Schildbürger, Don Quijote, Gulliver, die schöne Magdalene - hinweg mit ihnen [...]. Arm, ausgeplündert, entblößt und ungefeit trete ich in mein zehntes Jahr..." (Wolf, Christa (1972): Tabula rasa. In: Lesen und schreiben, Darmstadt, Neuwied, S. 190 ff.)

Solche Traditionen leben in der Literatur der Moderne fort. Der Blick "von unten" oder "von außen", die sprachliche Entlarvung des Jargons der Mächtigen gehören zu ihren zentralen Charakteristika. "Kritik" ist ihr Signum (Enzensberger) oder der Entwurf anderer Lebensmodelle (Wellershoff) oder auch das Aufrechterhalten der Erinnerung an noch nicht eingelöste Menschlichkeit (Bloch). Und es verwundert nicht, daß Schriftsteller mit solchem Anspruch oft genug den Machtapparaten mißfielen, ein Opfer der Zensur wurden oder eingekerkert, überwacht und gefoltert in Gefängnissen.

III
In der Kulturrevolution der Studentenbewegung der sechziger Jahre schärfte sich der Blick für soziale Fragen in der Literatur. Es fiel auf: daß in der Gegenwartsliteratur ganze Bevölkerungsgruppen nicht vorkamen: Menschen in Psychiatrien, Heimen, Gefängnissen, Industriebetrieben, Armenvierteln der Vorstädte hierzulande und in der Dritten Welt, Wohnungslose und Straßenkinder. Sie waren in der einschlägigen Literatur, auch wenn sie sich kritisch gab und sensibel war für Themen der Marginalisierung, nicht vorhanden, sie kamen erst recht nicht vor als sprechende und schreibende Subjekte. Jetzt fanden sie, im Rahmen der neuen sozialen Aufmerksamkeit, in Reportagen (Wallraff) und Protokollen (Bottroper Protokolle) eine Stimme. Wiederentdeckt oder zu neuem Leben gebracht wurden die Arbeiterliteratur und die Literatur von Frauen. Der kulturelle Demokratisierungsprozeß, für den es nicht zuletzt in Deutschland Nachholbedarf gab, führte zu einer neuen Schreibbewegung: "Jeder kann schreiben" (Böhncke). Registriert wurde die Tatsache, daß bereits unterhalb der Ebene der etablierten Literatur viele Menschen schreiben, zwar ortlos noch, ohne Publikationsmöglichkeiten und öffentliches Echo. Aber tendentiell wurden alle für fähig gehalten, eine eigene Sprache zu finden und schreibend und lesend am kulturellen und politischen Prozeß zu partizipieren.

Dies war auch die Geburtsstunde der neuen Gefangenenliteratur. Es gab sie als Teil der Weltliteratur immer schon, weil, wie erwähnt, aus systemischen Gründen Schriftsteller von hervorragender Bedeutung in Gefängnissen und Lagern eingesperrt waren und ihre Situation thematisierten. Jetzt aber schreiben die "normalen", sozialen Gefangenen. Mit jahrzehntelanger Verspätung gegenüber anderen westlichen Demokratien erscheinen nun auch in Deutschland Gefangenenzeitungen, die von Inhaftierten selbst hergestellt werden. Verlage, sogar im Taschenbuchbereich, interessieren sich für literarische Texte von Gefangenen. Ein Schriftsteller wie Martin Walser empfindet es Ende der sechziger Jahre als Skandal, daß eine ganze soziale Realität aus dem Literaturbetrieb ausgeblendet ist, und unterstützt schreibende Gefangene, insbesondere bei der Erstellung ihrer Autobiographien. Es erscheinen nun Anthologien schreibender Gefangener, teils von ihnen selbst publiziert, teils von namhaften SchriftstellerInnen, am bekanntesten die von Ingeborg Drewitz, die sich auch konkret um die Förderung schreibender Frauen im Gefängnis kümmert. Wenig später entsteht ein eigener Verlag für Gefangenenliteratur (Reiner Padligur Verlag) aus der Eigeninitiative von Gefangenen heraus, und in dieser Tradition entwickelt sich dann der Ingeborg-Drewitz-Preis für Gefangenenliteratur.

Es war dies ein Aufbruch - historisch überfällig, aber mit dem Entstehen bereits in die Widersprüchlichkeit der politischen Lage der siebziger Jahre gestellt. Das Strafvollzugsgesetz, die Hoffnung demokratischer Reformer des Gefängniswesens, trat 1977 in Kraft, und noch hoffte man trotz aller schlechter Kompromisse im Gesetz, daß damit der Rahmen für überfällige Reformen, ja eine grundlegende Umgestaltung, entstanden sein könnte.

IV
Mir selbst, der ich weder zum Gefängnis noch zur dort entstehenden Subkultur Zugang hatte, begegnete die Gefangenenliteratur eben in dieser Zeit, wenngleich auch zunächst eher indirekt. An der Universität Münster wurde ein Seminar über P.P. Zahl, den damals bekanntesten Knastautor (u.a. mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet) verboten. Es gab Proteste, eine Versammlung mehrerer hundert Studenten, auf denen Erich Fried über die Tradition der Gefangenenliteratur und die Freiheit der Meinung sprach, und einen großen, ganzseitigen Artikel in der ZEIT über P.P. Zahl aus Anlaß seiner universitären Diskriminierung. Auf interessante Weise standen sich eine kulturell randständige Literatur samt einer daran interessierten, damals überraschend großen Öffentlichkeit und eine traditionelle institutionelle Literaturverwaltung gegenüber, auf "höhere" Literatur fixiert und mit autoritärem Gestus irritierende kulturelle und soziale Realitäten der Gesellschaft aus dem Blickfeld verbannend.

Immerhin provozierte diese kleine, randständige Literatur Wirkung. Auch ich widmete mich dem Thema und bot meinerseits ein Seminar dazu an. Ich erinnere mich daran noch sehr genau. Das Seminar war gut besucht, mindestens so gut wie andere literarische Seminare. So fremd uns der Hintergrund Knast zumeist war, so sehr beeindruckte uns die Literatur, regte uns auf, rückte uns die unbekannte Realität näher. Sie öffnete uns die Augen. Wir ergänzten die Lektüre durch Besuche in Gefängnissen, Kontakte mit schreibenden Gefangenen, Gespräche mit Strafvollzugsbediensteten, mit Angehörigen der Gefangenen. Wir fragten konsterniert nach der Wahrheit dieser Literatur und lernten ihren Charakter als authentische, dokumentarische Literatur kennen. Sie ließ uns fragen, wie es sein kann, daß eine solche Realität, mitten unter uns, von uns nicht gesehen und gewußt und zugleich doch mitverantwortet wurde. Sie machte uns die Wichtigkeit einer Literatur deutlich, in der vergessene oder weggedrängte Menschen selbst sprechen. Manch einer, durch die Sterilität schulischer Literaturkurse der Wirkungen von Literatur entwöhnt, fand überhaupt erst wieder Zugang zum intensiven Lesen. Wir mußten nicht über hypothetische Wirkungspotentiale von Literatur theoretisieren, wir hatten solche erlebt - bis heute übrigens eine für mich bedeutsame Motivation, mich mit ihr zu beschäftigen und sie zu vermitteln. Und folgerichtig stellten die Studierenden die Frage: Was kann, muß man tun? Eine Projektgruppe tat das naheliegende, sie gab ihr neues Wissen weiter. Wir veröffentlichten Texte von Gefangenen aus Gefangenenzeitungen, deren Existenz wir gerade erst kennengelernt hatten. Der Titel lautete: "Ungehörte Worte".

Es lag nahe, die Gefangenenliteratur systematisch zu sammeln, durch Lesungen und Publikationen zu unterstützen, auch durch die Vernetzung schreibender Gefangener oder die Beratung von Redakteuren von Gefangenenzeitungen. Es ist dies die Intention der Dokumentationsstelle Gefangenenliteratur, die von mir Anfang der 80er Jahre an eben jener Universität eingerichtet wurde, an der sie es einige Jahre zuvor besonders schwer gehabt hatte. Nicola Keßler hat in der Dokumentationsstelle mehr als zehn Jahre als Mitarbeiterin gewirkt, und ich muß sagen, es war eine schöne und fruchtbare Zusammenarbeit - bis heute. Nicht zuletzt auch eine spannende, denn Gefangenenliteratur, dies zeigt sich immer wieder, ist, so wichtig auch ihre Ästhetik für ihr Wesen und ihre Wirkung sein mag, nicht primär unter den Gesichtspunkten ihrer Ästhetik zu rezipieren und abzuhaken. Sie weist über sich hinaus auf eine real existierende Wirklichkeit und setzt sich mit dieser produktiv auseinander. In den vielen Gesprächen mit den Autoren und Autorinnen, die uns begegneten, ging es um das Schreiben, aber immer auch um die Lebenssituation, die Bedrängnisse, das Leiden, den Überlebenswillen, die Realität des Knastes. Literaturwissenschaft wird da mehr als historisierende oder ästhetisierende oder formalisierende Textexegese, sie wird zu einem Stück Sozialarbeit, auch einem Stück Politik. Sie kommt nicht umhin, dem Blick der Gefangenenliteratur auf die Realität zu folgen und mit ihr die Frage nach der Legitimität dieser Realität in einer demokratischen Gesellschaft aufzuwerfen. Sie steht mit dem Annehmen des literarischen Diskurses zugleich in einem gesellschaftlichen Diskurs voller Sprengstoff.

Aus guten Gründen bezeichnet Nicola Keßler ihre wissenschaftliche Haltung als parteiisch. Das mag provozierend klingen, bezeichnet man doch gemeinhin Wissenschaft als wertneutral. Aber Wissenschaft und Parteinahme widersprechen sich nicht, sie sind eng miteinander verknüpft. Schon die Wahl des Sujets ist Parteinahme. Wer Gefangenenliteratur nicht liest oder sie methodisch durch formalisierende Verfahren ihrer Intention entkleidet, wertet. Nicola Keßler nimmt den literarischen wie den gesellschaftlichen Diskurs auf. Sie tut dies auf einer seriösen analytischen Ebene, so daß sie ein Standardwerk zur Gefangenenliteratur vorlegt, welches die bisherige Forschung über das Thema ein ansehnliches Stück voranbringt. Das Erste und Entscheidende ist ja: zu hören und zu lesen. Und dann das nicht minder Wichtige: sich den Fragen zu stellen. Pierre Bourdieu, auf den sich Nicola Keßler bezieht, signalisiert mit der Wahl des Sujets und dem Titel des Buches bereits zwei Prämissen seiner Arbeit: Es gibt das "Elend der Welt" in und das "alltägliche Leiden an der Gesellschaft" Und beides dürfte nicht sein: Zwei Prämissen, derer sich humane Wissenschaften fur ihre Arbeit bewußt zu sein hätten.

V
Was dürfen wir hoffen? Das moderne Gefängniswesen ist seit seiner Geburt vor zweihundert Jahren durch einen Grundwiderspruch gekennzeichnet: den Menschen durch Isolation sozial erziehen zu wollen. Dieser Grundwiderspruch ist seit der Entstehung des modernen Gefängnisses erkannt und diskutiert, aber nicht beseitigt worden. In ihm spiegelt sich ein Grundwiderspruch der liberalen Gesellschaft überhaupt: Für die freie Entwicklung des Individuums im Rahmen eines freien Marktes zu plädieren, der als entfesselte Konkurrenzgesellschaft unzählige Menschen in Armut, Elend und Unfreiheit stürzt, sie, wie Heinrich Böll sagt, zum "Abfall" der Gesellschaft macht. Wenn dieser "Abfall" schon nicht zu vermeiden ist, soll er zumindest so entsorgt werden, daß er unsichtbar bleibt. Er könnte sonst das cleane Selbstbild der Profiteure stören und die Legitimationsfrage stellen.

Nicht zu übersehen ist in diesen Tagen die wieder steigende Zahl von Gefangenen und Gefängnissen. Die neue Architektur der Gefängnisse atmet Modernität und basiert doch nach wie vor auf dem Prinzip der Isolation und der Konstruktion von Mauern und Wachttürmen. Es ist das Bundesverfassungsgericht gewesen, das in den letzten Jahren mehrfach daran erinnern mußte, daß auch Gefangene Anspruch auf die Respektierung von Grundrechten unserer Verfassung haben. Jutta Limbach, die Präsidentin dieses Gerichtes, rief erst kürzlich in der Süddeutschen Zeitung die Grundsätze eines humanen Strafvollzugs und die defizitäre Sanktionspraxis ins Gedächtnis: "Zu unserem Erfahrungsschatz gehört vor allem das Wissen über die kriminalitätsfördernde Wirkung des Strafvollzugs [...]. Unter der Ägide des Europarats wird über eine moderne Sanktionspraxis nachgedacht, die den Einzelnen als Person achtet und an dessen sozialer Verantwortung ansetzt." (26.5.2001) Es sind dies Ansichten und Rechtsauffassungen, die gegen die öffentliche Meinung stehen, wo sich zunehmend eine aggressive Stimmung gegen die Täter breitmacht und der Ruf nach Vergeltung, harten Strafen, lebenslangem Wegschluß oder auch nach der Todesstrafe lauter wird.

Gefangenenliteratur entsteht in solchen durchaus dramatischen Konfliktfeldern. Einerseits wird sie gefördert, wie die Kultur im Gefängnis überhaupt. Gefangenenzeitungen, worüber Uta Klein und Anja Vomberg interessante Untersuchungen angestellt haben, werden in verschiedenen Bundesländern gefördert, auch finanziell unterstützt. In Nordrhein-Westfalen existiert mittlerweile schon eine Tradition der Fortbildung für Redakteure von Gefangenenzeitungen. Im Bereich der Bildenden Kunst gibt es großartige, teilweise auch aufwendige Projekte, ebenfalls im Bereich des Theaters, das in einer Reihe von Anstalten beachtliche Anerkennung findet. Unterstützung erfahren auch Schreibgruppen im Gefängnis. Nach einer von mir kürzlich durchgeführten Umfrage gibt es derzeit in den rund 200 Strafanstalten 16 Schreibgruppen, wobei die Fluktuation dabei nicht unerheblich ist. Es hat, wie auf einer Tagung zum Thema "Kunst und Knast" an der Evangelischen Akademie Loccum im November 2000 deutlich wurde, den Anschein, als ob Kultur, nach dem Scheitern der Resozialisierung, als eine Art Kompensation etabliert werden soll. Wenn sie schon nicht durch den bestehenden Strafvollzug sozial (re)integriert werden können, sollen die Gefangenen wenigstens durch kreative Tätigkeiten psychisch stabilisiert und auf gesellschaftlichen Ersatzfeldern sozial sensibilisiert werden.

Auf der andern Seite sind die finanziellen Aufwendungen fur kulturelle Aktivitäten gering, Gefangenenzeitungen fristen oft nur ein mühseliges Dasein, Unterstützungen fur literarische Buchpublikationen sind verschwindend. Schreiben wird oft genug mißtrauisch beobachtet, und wenn es ernst wird, geriert sich der Staat im Zweifelsfall als Machtapparat. Verbreitet gibt es Zensur, von den Behörden vornehm "Entnahme" genannt und natürlich juristisch begründet. Die Schere im Kopf, so berichten viele Gefangene, ist Dauerzustand. Man muß hinzufügen in demokratischen Verhältnissen Aufschlußreich ist die Begrifflichkeit in den Begründungen für derlei Restriktionen, die Rede ist nämlich, als hätte es unsere Geschichte nicht gegeben, von der Gefährdung der "Sicherheit und Ordnung" als obersten Prinzipien.

Gegenüber solcher Macht hat die Gefangenenliteratur, wie alle Literatur, nur eine leise Stimme. Die Publikationen sind, entsprechend dem allgemeinen Interesse am Strafvollzug, seltener geworden und haben geringere Auflagen als noch in den achtziger Jahren. Es ist eine kleine, wache Öffentlichkeit geblieben. Die Stimmen aus dem Knast sind leise, aber klar Ausdruck der inneren Not, der Repressionen in der totalen Institution, Befreiungsversuche, Informationen, Hilferufe, Proteste, Klagen, Anklagen, Kommunikationssuche und Gesprächsangebote.

Interessant dürfte die Entwicklung auf dem Medienmarkt auch für die Wirkung und Rezeption der Gefangenenliteratur sein. Wendet man die Entwicklung positiv, so ermöglicht das Internet in historisch nie dagewesener Weise die allgemeine Partizipation an Information und gesellschaftlichem Diskurs. Auch am Strafvollzug wird diese Kulturrevolution nicht vorbeigehen. Bereits jetzt finden sich im Internet Texte der Gefangenenliteratur, auch Auszüge aus Gefangenenzeitungen. Es gibt erste Versuche, den interaktiven Austausch zwischen Gefangenen online wie offline zu ermöglichen ("Planet Tegel") Die neuen Medien erschließen potentiell eine neue Leserschaft und neue Formen der Kommunikation. Euphorie muß daraus nicht entstehen, aber doch ein Blick für neue Wirkungsmöglichkeiten. Vielleicht bröseln die Mauern ja doch ein bißchen, in den letzten Jahren sind zur Überraschung aller ganz andere Mauern zusammengestürzt, weil ihnen das demokratische Fundament fehlte.

Ideen fur Neues sind da, Nicola Keßler widmet ihnen ein Schlußkapitel. Und auch aus dem Gefängnis gibt es, neben tiefer Resignation, verzweifelter Gebärde und bitterer Anklage Stimmen voller Sehnsucht nach Liebe, Menschenwürde und Freiheit. Manchmal rückt solche Literatur auf eine pointierte Weise, die nur der Literatur zur Verfügung steht, Relationen zurecht.


Häftlingstraum
Packen Sie Ihre Sachen
Sie sind entlassen
Ihr Richter
hat gestanden

P.P. Zahl


Texte von Menschen im Gefängnis

Mit der Flaschenpost gegen einen Ozean

Mit der Flaschenpost gegen einen Ozean
Auswahl aus:
"Mit der Flaschenpost gegen einen Ozean"
Briefe aus dem Knast
Helmut H. Koch (Hrsg.) Unter Mitarbeit von Nicola Keßler, Anja Vomberg und Hildegard Wiethüchter
Edition amRand 1998
ISBN 3-00-002457-3

(Seite 64-67)
Arrest

(Seite 82-84)
Warum man einen Menschen so quälen darf

(Seite 138-145)
Radikal wegzensiert


Ich muss zurück ins Rattenloch

Ich muss zurück ins Rattenloch
Auswahl aus:
"Ich muss zurück ins Rattenloch"
Unerhörte Geschichten aus dem Frauenknast
Reimund Neufeld & Prof. Dr. Helmut Koch (Hrsg.)
Mit einem Essay von Prof. Dr. Helmut Koch
assoverlag Oberhausen

ISBN 978-3-938834-7

(Seite 14-22)
Marta - Kannst Du Dich noch erinnern

(Seite 37-39)
Karina - Ich muss zurück ins Rattenloch

(Seite 66-69)
Claudia - Der Brief an meine Mutter


Hoffnungsvögel

Hoffnungsvögel
Auswahl aus:
Münsteraner Autorinnen
"Hoffnungsvögel"
Grenzerfahrungen
Herausgegeben von Helmut H. Koch, Nicola Keßler und Ruth Langer
Mit Zeichnungen von Ursula Jüngst
Edition amRand

ISBN 3-8311-0927-3

(Seite 20)
EINFACH SAGEN ZU KÖNNEN

(S. 36-50)
DAMIT DIE WUNDEN HEILEN KÖNNEN, IRGENDWANN

(S. 93)
GENESEN

(S. 94-95)
DAS ENDE DER WELT


Schreiben und Lesen in psychischen Krisen

Hoffnungsvögel
Auswahl aus:
Helmut H. Koch Nicola Keßler (Hg)
"Schreiben und Lesen in psychischen Krisen"
Authentische Texte:
Briefe
Essays
Tagebücher
Paranus-Verlag Psychiatrie-Verlag

ISBN 3-88414-219-4 (Psychiatrie-Verlag)
ISBN 3-926200-29-4 (Paranus-Verlag)

(S. 82-85)
Schreiben und Lesen gegen die Eßsucht

(S. 129-131)
Aus leid wird man zum Dichter


...stellst mein Leben in Frage

stellst mein Leben in Frage
Auswahl aus:
Münsteraner Autorinnen
Helmut H. Koch Nicola Keßler (Hg)
"...stellst mein Leben in Frage"
Grenzerfahrungen
Edition amRand

ISBN 3-00-002456-5

(S. 71)
Selbsterfahrung durch Lesen und Schreiben

(S. 75)
Vom Klein-Machen

(S. 114)
Abend



Weitere Texte finden Sie hier:

Ingeborg Drewitz Literaturpreis für Gefangene